In der Hängematte auf dem Amazonas
Südamerika-Tour 2013-2015 – Teil VI
Im Hängemattenschiff von Iquitos nach Leticia
Um zwei Uhr nachmittags sind wir am Hafen von Iquitos und ergattern uns einen idealen Platz auf der Fähre, um unsere Hängematten aufzuhängen. Den restlichen Tag verbringen wir damit, den Menschen zuzuschauen. Passagiere, die sich für die Reise einrichten, Verkäufer, die von Hängematten bis Mandarinen alles Mögliche verkaufen, die Schiffscrew.
Als es eindunkelt, liegen wir immer noch im Hafen. Es scheint alles an Bord zu sein, neben Menschen werden allerlei Baumaterial, Wasser und andere Getränke transportiert, die in irgendwelche Dorfgemeinden am Amazonas geliefert werden. Wir wissen nicht, worauf noch gewartet wird.
Um elf Uhr nachts sind wir endlich unterwegs, zwei Nächte, eineinhalb Tage lang. Ich schlafe recht gut in meiner Hängematte. Die Zeit vergeht schnell. Wir verbringen sie mit lesen, Musik hören, Gesprächen, während wir gemächlich den Amazonas hinuntergleiten.
Ab und zu halten wir in einem Dorf, manchmal könnte man es fast Stadt nennen, draussen im Nirgendwo, laden auf und ab und machen uns wieder auf den Weg.
Manchmal regnet es in Strömen, oft scheint die Sonne. Wir beobachten graue und rosa Flussdelfine beim Spielen, essen Reis mit Fleisch – zwei kleine Gerichte sind im Fahrtpreis enthalten – warten, schauen, sind.
Mittags des zweiten Tages kommen wir in Santa Rosa, Peru, an. Ich schaue auf die andere Seite des breiten Flusses. Da drüben befindet sich Tabatinga, Brasilien. Daneben unser Ziel: Leticia, Kolumbien.
Der Mensch sieht, hört, spürt. Er sammelt viele Erfahrungen in seinem Leben. Erzählungen entstehen, meist sind sie schaurig, doch auch schöne und hoffnungsvolle existieren. Sie werden weitergegeben von Generation zu Generation. Was einstmals der Grossmutter erzählt wurde von deren Vorfahren, wird heute wiederum an die Jüngsten weitergegeben. Sie dienen als Wurzel, Rat und Hilfe für das zukünftige Leben jedes Einzelnen. Doch Erzählungen haben es schwer im heutigen modernen Zeitalter, wo alles logisch sein soll und bewiesen werden muss. Was einst tief geglaubt und gelebt wurde, wird nun beurteilt und somit meist auch verurteilt.
In Peru, besonders in den dichten Wäldern des Amazonas, findet man immer noch etliche Sagen und mystische Gestalten. Viele Gemeinschaften liegen Stunden entfernt von der modernen Welt. Sie sind tief verankert in ihrer Kultur, dem Wissen fürs Überleben und den Sagen, die ihnen den Weg weisen. Von dort kamen die Menschen einst, taten sich zusammen und bildeten die ersten Dörfer, bald die Städte. Padre Cocha ist gerade mal 95 Jahre alt und zählt an die 3000 Menschen. Wir wohnten einen Monat in diesem Dorf und arbeiteten mit Einheimischen zusammen. So geschah es, dass wir Volontäre bald auch auf das Thema der Mythologien zu sprechen kamen. Wir wollten mehr über die Spirits des Amazonas erfahren und merkten, dass einiges Wissen bei unseren Arbeitskollegen zu holen war. Die ersten Informationen kamen jedoch nur zögerlich. Wir erfuhren vom Chullachaqui, dem Wicht mit einem menschlichen und einem tierischen Bein, der Menschen tief in den Wald lockt und sie nimmer wieder zurückkehren lässt. „Der Grossvater meiner Frau hat ihn gesehen, ist ihm aber zum Glück entkommen.“, erzählt Gilbert. Wir lachen verlegen, wissen nicht, ob wir es glauben sollen oder nicht. Doch der junge Spassmacher schaut uns ernst in die Augen und wir werden hineingezogen in das Unerklärliche, mystische und doch präsente. „Jede Geschichte hat etwas Wahres“, denke ich und ein Schauder schleicht sich meinen Rücken hinunter.
So kommt es, dass wir weiterfragen, neugierig sind wie kleine Kinder, alles wissen wollen. Secundo, ein Arbeiter und Vertrauensperson von Gudrun, will uns mehr erzählen. Wir sollen am Abend zu ihm nach Hause kommen, und er werde uns ein paar Erfahrungen erzählen. Wir sind pünktlich vor Ort und voller gespannter Erwartung. „Erzählst du uns nun diese Geschichte?“, Secundo wird ernst: „Es ist keine Geschichte, es ist die tragische Wahrheit, es war ein Freund meines Vaters, der dies miterlebt hatte.“
In Nauta, einem Städtlein nahe Iquitos, steht das Jahresfest an. Als Joel nach Hause zu seiner Frau kommt, weist er sie an, schon mal die Mahlzeit zuzubereiten. Er wolle unterdessen zum Fluss gehen, um sich zu waschen. Als er dort ankommt, sieht er einen Mann auf dem Steg sitzen. „Ich habe dich bereits erwartet“, sagt dieser. Ehe Joel sich versieht, wird er vom Mann gepackt und in die Tiefen des Wassers gezogen.
Als Joel nach geraumer Zeit nicht nach Hause zurückkehrt, beginnt seine Familie sich Sorgen zu machen. Sie machen sich auf die Suche nach ihm. Doch am Ufer des Flusses finden sie nur Joels Seife und seine Kleider. Joel selbst bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Sie rufen den Brujo (Heiler), der sich die Räume im Haus der Familie genauestens ansieht. Er weiss schon bald, was Joel zugestossen ist. Joel kann nur dem Yacuruna, dem im Wasser lebenden Mann, begegnet und von ihm ins Wasser gezogen worden sein. So beschliesst er etliche starke Männer zusammenzurufen, die Joel in der Sekunde seines Auftauchens packen und aus dem Wasser ziehen sollen. Letzterer solle nämlich unterdessen übernatürliche Kräfte entwickelt haben, was dieses Unternehmen erschweren wird. Drei Brujos und die Helfer finden sich am Fluss zusammen. Sie warten geduldig auf das Auftauchen Joels. Nach geraumer Zeit geschieht es – Joel kommt an die Wasseroberfläche. Nur ist er verändert. Blutegel sind dort, wo einst seine Nase war, seine Augen sind gross und rund und seine Knie nach innen geknickt. Nur durch Pusten der Brujos kann Joel ruhig gestellt werden, damit die Männer ihn aus dem Wasser ziehen können. Joel weiss nicht, was ihm zugestossen ist, nicht mal mehr, wer er ist. Mittels Trance finden die drei Brujos heraus, dass er unter Wasser gezwungen wurde, rohen Fisch zu essen.
„Entweder du isst den grossen Fisch oder er wird dich essen.“ Er hatte keine Wahl und ass. Mit jedem Bissen verwandelte er sich Stück für Stück in einen Yacuruna. Das Ganze geschah nur, weil der Yacuruna seine Tochter mit Joel verheiraten wollte.
Als Joel nun auf dem Trockenen daliegt, bringt ihn seine Familie zu seinem Haus. Er erkennt es nicht mehr. Erst mit der Zeit fühlt er sich wieder wohl darin. Er lebt fortan nur noch im Haus, die Verwandlung konnte nicht rückgängig gemacht werden. Er geht nicht mehr ins Freie und isst keinen Bissen mehr.
„Drei Monate danach verstarb er“, endet Secundo seine Erzählung.
Das Dreiländereck mitten im Dschungel ist beliebt für Reisende, die wie wir von Iquitos kommen. Manche fahren gleich weiter, vier bis fünf Tage lang, nach Manaus. Oder fliegen, da es keine richtige Strassenverbindung ins Innere Kolumbiens gibt, nach Bogota.
Per Boot erreichen wir von Santa Rosa aus Leticia und müssen, nachdem eine zahlbare Unterkunft gefunden ist – Kolumbien ist gleich wieder ein gutes Stück teurer als Peru –, zum nahen Flughafen fahren; die einzige Möglichkeit, hier einen Einreisestempel zu erhalten.
Leticia ist klein und leicht zu Fuss erkundbar. Damit wir auch mal in Brasilien waren, spazieren wir nach Tabatinga rüber. Die Flagge ist nicht die gleiche, und man spricht portugiesisch – ansonsten stellen wir keine grossen Unterschiede zwischen den beiden Orten fest.
Krank
Zurück in Leticia fiebert Seraina vor sich hin, ich ziehe mir eine Erkältung zu, wohl wegen dem Ventilator und der gleichzeitigen ewigen Hitze.
Da wir hier im Amazonas sind, wo hohe Ansteckungsgefahr mit Dengue und Malaria herrscht, gehen wir sicherheitshalber ins Krankenhaus.
Seraina unterzieht sich einem Bluttest. Nach endlosem Warten steht fest: Dengue positiv. Auch das noch. Morgen wollen wir nach Santa Marta weiterfliegen. Der Arzt verschreibt Seraina Acetaminofen gegen das hohe Fieber und rehydrierende Salzlösungen, die sie täglich mit literweise Wasser trinken muss. Ein eigentliches Medikament gegen den Virus existiert nicht. Man muss vor allem dafür sorgen, viel zu trinken, damit man nicht austrocknet.
Am nächsten Abend landen wir ausgelaugt an der karibischen Küste und fahren ins Hostel, wo wir beide gleichzeitig frieren und schwitzen. In Santa Marta sind die Nächte fast unerträglich heiss.
Einen Tag später seucht Seraina noch immer vor sich hin. Sechs Liter Wasser sind schnell an einem Tag verschwunden.
Ich telefoniere mit Mauricio in Bogota. Er ist ein Spezialist was Dengue betrifft und rät uns beiden, viel zu trinken und die nächsten Tage zu ruhen. Und sicher keine Medikamente gegen Grippe oder Kopfschmerzen einzunehmen. Kein Aspirin, kein Neocitran oder ähnliches, da dies den Körper an der Heilung hindert.
Jeden zweiten Tag geht es Seraina besser, nur um an jedem Tag dazwischen mit sehr hohem Fieber ans Bett gefesselt zu leiden. Nach einer Woche in Santa Marta, wo wir von Levi und Ella im Hostel fürsorglichst behandelt werden, haben wir genug von der Hitze und der Stadt und fahren nach Palomino, um nach unserem Land zu schauen.
In derselben Nacht geht es Seraina äusserst mies. Sie fiebert, zittert, brennt am ganzen Körper. Ich schätze, 40 Grad Fieber müssen das Minimum sein. Irgendwie geht auch die Nacht vorbei. Wir fahren ins nächste Spital, das in Dibulla, ein paar Dörfer weiter, liegt. Nach einem weiteren Test und langem Warten bekommt sie ihre Diagnose: Seraina leidet nicht an Dengue, das innerhalb drei bis fünf Tagen hätte verschwunden sein müssen, sondern an Malaria!
Kostenlos werden ihr nach elf Tagen endlich die richtigen Medikamente verschrieben, die ihren Zustand sofort verbessern. Weitere zehn Tage muss sie diese einnehmen, damit der Parasit im Blut hundertprozentig getilgt wird.
Keine Ahnung, was mich vor ein paar Tagen kurz erwischt hat, vielleicht eine Grippe oder ein sonstiger Wurm, auf jeden Fall blieb ich von Malaria verschont, was ein späterer Test beweist.
Nat und Palomino
Es ist WM-Zeit in Brasilien und der ganzen Welt. Ich bringe sogar Seraina dazu, mit mir Fussball zu schauen. Die Euphorie fehlt mir jedoch sehr in Kolumbien. Gerademal wenn ihr Team spielt, ist sie zu verspüren. Ansonsten ist es manchmal schwer, andere Spiele zu schauen. Einerseits weil das kolumbianische Nationalfernsehen nur vierzig der fünfundsechzig Spiele ausstrahlt, andererseits geht in Palomino öfters unverhofft der Strom aus.
Es gibt aber auch zu tun in Palomino. Wir überlegen, was sich lohnt, jetzt schon auf unserem Land zu erledigen. Wir pflanzen ein paar Fruchtbäume mit der Hoffnung, dass sie bei unserer Rückkehr in eineinhalb Jahren schon etwas gewachsen sind. Ein Stacheldrahtzaun muss her, um die Grundstücksgrenzen klar abzustecken. Am Ende entschliessen wir uns, alles andere auf das nächste Mal zu verschieben.
Unserem australischen Nachbar Nat helfen wir, eine Art Bambuszaun um sein Land zu errichten. Er beginnt demnächst mit seinem Hausbauprojekt, wofür er sich eine grosszügige Heimwerker-Werkstatt eingerichtet hat. Beeindruckend, wie viele Werkzeuge er sich leistet.
Er plant, in vier bis fünf Monaten sein Cabaña aufgestellt zu haben. Wir vermitteln ihm Rowan, ebenfalls Australier, den wir kürzlich auf unserem Campingplatz kennengelernt haben. Die beiden scheinen augenblicklich ein grossartiges Team abzugeben.
Nats gute Freundin Karina, die gegenüber lebt, hat wohl unsere Zaunarbeit bei Nat Eindruck gemacht. Sie engagiert uns ebenfalls, um ihren Zaun zu erneuern.
Das Problem hier ist, das man zwar haufenweise einheimische Arbeiter findet – sie drängen sich fast auf –; sie sind leider einfach unzuverlässig und nur am schnellen Geld interessiert. Was dabei rauskommt, ist teure schlechte Arbeit und unnötigen Zeitverlust. Vor allem aber büsst man seine Nerven ein. Wir haben das zuhauf in Padre Cocha erlebt und müssen es auch hier wieder feststellen.
Nat hat die Lösung zu diesem Problem: Freiwillige Helfer, hauptsächlich Reisende wie wir, anstellen, die gute Arbeit leisten wollen.
Nat ist für uns eine Art Versuchskaninchen. Wir sehen, was in eineinhalb Jahren auf uns zukommt. Durch seine Erfahrungen wird es uns hoffentlich möglich sein, einige Fehler zu vermeiden, die er machen musste. Zusätzlich weiss er schon sehr gut Bescheid, welche Hölzer wofür zu benutzen sind, wo man sie für welche Preise bekommt und kann uns viele hilfreiche Informationen über das Bauen in Palomino liefern.
Wir können uns glücklich schätzen, einen so guten Freundeskreis gefunden zu haben, der uns ein Gefühl von „zu Hause sein“ vermittelt. Karina bekocht uns fürstlich – das ständige lokale Reis mit Fleisch hat man manchmal einfach satt –, während wir mit Hilfe argentinischer Freunde, die wir in Santa Marta im Hostel kennengelernt haben, Löcher graben, Pfosten einsetzen, Wunden reissenden Stacheldraht verlegen und die „caña boa“-Stecken zu einem dichten Zaun verdrahten, um etwas Privatsphäre von den neugierigen Nachbarn herzustellen. Denn die kommen oft uneingeladen vorbei, setzen sich zu dir, um… nun, um zu plaudern oder einfach zuzuschauen, was du gerade so tust. Üblich in Dörfern wie Palomino, kann das für uns „Westler“ etwas anstrengend werden.
Juni und Juli vergehen schnell. Neben Palomino fahren wir auch wieder zurück nach Santa Marta, um unsere neuen guten Freunde im Hostel zu besuchen. Auch Miguel im nahen Taganga statten wir ab und zu einen Besuch ab.
>>> Es war ein grosser Spass, das folgende (leicht gekürzte) Video zu machen. Für den 30. Geburtstag von unserem guten Freund Probst zuhause in der Schweiz, schusterten wir die vielen Glückwünsche von unseren Freunden in Taganga und Palomino zu einem Geburtstagsgruss der etwas anderen Art zusammen 😀 <<<
Besuch von Zuhaus
Wie eine der erfrischenden Böen in ausgetrockneten Taganga – seit acht Monaten hat es nicht mehr geregnet! – verfliegt die Zeit, wir haben den ersten August, und Serainas Schwester Tabea geniesst mit uns ein kühles Bier am Strand. Für ein paar Wochen können wir ihr ein paar Eindrücke von unserem Leben an der kolumbianischen Küste vermitteln. Und wie dankt sie uns das?
Mit kiloweise frisch importiertem Käse und Schokolade aus der Schweiz! Mmmh, merci vielmals, Bäse! Das zaubert nicht nur uns sondern auch unseren kolumbianischen, argentinischen, australischen, rumänischen, polnischen Freunden ein breites Lächeln ins Gesicht.
Weiterreise: Über San Gil nach Bogotá
Schliesslich verabschiedeten wir uns von Tabea und unseren lieben Freunden in Palomino und Taganga.
Auf dem Weg nach Bogotá, wo uns Mauricio und Vivi erwarteten, legten wir eine Stopp in San Gil ein.
Wir freuten uns Andrea und Justin im „La Pacha“ wieder zu sehen. Sie hatten sogleich ein paar Aufgaben für uns. Da konnte Seraina ihre künstlerische Ader einmal mehr unter Beweis stellen.
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